Yumiko Yoshioka
Was ist Butoh?
Ich muss erstmal lachen, weil es so eine schwierige Frage ist. Genauso wie die Frage, was „live“, Leben, ist. Das ist immer so mysteriös, die Antwort zu finden. Wir wissen eigentlich nicht, woher wir gekommen sind, wohin wir gehen, was der Ursprung von Leben ist. Das ist genauso wie beim Butoh für mich, für dich. Alle Butoh-Tänzer haben eine andere Antwort.
Für mich ist Butoh ein Mittel für Forschung. Mich selber im Mikrokosmos zu erforschen, in der unbekannten Welt. Aber auch im Makrokosmos, im Universum, zu erforschen, auch die anderen Menschen und Objekte und Lebewesen, alles Lebendige und Nichtlebendige. Das Mittel von Tanz ist für mich Butoh, immer mit Freude, immer mit Neugier. Wow, was ist in dieser Dunkelheit? Es ist so, wie in eine Höhle hineinzugehen mit ein bisschen Licht von der Taschenlampe, mit Bewusstsein, aber auch mit Neugier. Natürlich ist das manchmal auch gefährlich, man muss aufpassen. Wir wissen nicht, wohin es uns führt, welche Gänge oder Wege es gibt. Wir müssen schon vorsichtig sein, aber mit Freude, Mut, Neugier kommen wir weiter, tiefer, höher oder weiter nach vorne oder nach hinten. So zu forschen, sind Körperwege, „passage“. Für mich ist das Wort „passage“ eigentlich besser als Wege. Passage, pass, pass, pass, immer so durch. So können wir uns selbst suchen. Das ist nicht das Ziel, der Prozess ist wichtig.
Immer gibt es eine neue Landschaft, wie auch das Wetter sich immer ändert, nie gibt es immer die gleiche. Das ist wichtig, wie „ichi-go, ichi-e“ (eine Zeit, ein Treffen – ist eine japanische Redewendung, die ein kulturelles Konzept beschreibt, das die Wertschätzung der Unwiederholbarkeit eines Augenblicks zum Ausdruck bringt. – aus Wikipedia), immer einmalig und immer etwas Neues. Mich selbst nicht nur zu entdecken, aber zu erforschen und zu kultivieren, zu transformieren, ist eine unendliche Forschung, „exploration“. Butoh ist für mich so ein – nicht Werkzeug, aber – ein Medium, Mittel, Verkehrsmittel (lacht) zu reisen. Eine unendliche Reise in mich selbst.
Das heißt auch, der Makrokosmos, das Universum und Kosmos draußen, und der Innenkosmos sind verbunden. Butoh ist so wie eine Brücke, um die sichtbare und unsichtbare Welt zu verbinden. Es gibt nicht nur eine Brücke, es gibt viele verschiedene Brücken. Manchmal können wir eine bauen, in verschiedenen Farben, verschiedenen Stärken. Manche Brücken sind sehr dünn, was nicht bedeutet schlimm, sondern sehr delikat. Manche sind sehr stark, fest, dass wir auch darauf tanzen können. Immer so, dass wir uns zuhören, uns selbst zuhören, dass wir einen Dialog, eine Methode schaffen. Eine Brücke zu bauen, ist immer unterschiedlich. Das ist für mich „celebration/celebrating diversity“.
Ja, alle Menschen, alle Sachen haben eine eigene „frequency“, Frequenz, Farbe, verschiedene Töne. Und für mich ist Butoh auch Tanz, Transformation, Verwandlung, aber nicht nur eine körperliche Verwandlung, sondern wir können auch unseren Gesichtspunkt, „point of view“, oder unsere Lebensweise ändern. Wie wir schauen, nicht nur „to watch, to look“, sondern auch „to projekt“, die Welt zu reflektieren oder zu projizieren. Zum Beispiel, dass wir nicht auf der Erde stehen, sondern hängen. Oder nicht „make“ sondern „let“. Beides – ist wichtig. Und dass es nicht nur eine, sondern viele verschiedene Möglichkeiten gibt.
Der Standard für Schönheit ändert sich natürlich in der entsprechenden Zeit aber es gibt auch die Menschennorm „im Geist schön“. Wir können verschiedene Ansichten haben, über „aging“ zum Beispiel. Alte Sachen sind auch schön, Falten sind auch schön – auch – nicht nur. Ja, nicht entweder…oder, sondern sowohl…als auch. Nicht vergleichen, was ist besser, sondern in allem ist Schönheit. Zeit macht auch Schönheit, Zeit gibt auch eine andere Farbe, zum Beispiel fallen Blätter im Herbst und haben eine andere Farbe, eine andere Schönheit. Alle Blumen zum Beispiel sind schön aber anders, eine Rose hat ihre eigene Schönheit, eine Lilie hat ihre eigene Schönheit. Der Kosmos hat eine eigene Schönheit. Also können wir nicht soviel Gewicht legen auf unseren eigenen Geschmack, das ist persönlich, menschlich. Durch Butoh öffnet sich unsere private Welt und wir können zum Beispiel sehen, auch Bakterien und Viren sind schön, wenn wir sie unter dem Mikroskop sehen (lacht). Natürlich möchte ich auch nicht krank werden, aber wenn ich es von der anderen Seite sehe, wenn wir Bakterien wären, dann freuen wir uns, wenn wir uns vermehren können (lacht). Deshalb sollten wir nicht immer gegen, gegen, gegen, sondern mit – koexistieren und die eigene Schönheit akzeptieren. Das hat Butoh: Offenheit, offene Augen, Akzeptanz, „generosity“, Toleranz, Freude, neue Schönheit zu entdecken.
Viele Leute denken, Butoh ist so ein bisschen hässlich oder sehr schwer. Tod. Schwer. Negativ. Tod ist auch ein wichtiges Element, natürlich. Wir essen etwas Totes (lacht). Das ist wie yin und yang: Verbindung, Ergänzung. Sie ergänzen einander, Leben und Tod. Ohne Tod können wir nicht leben. Sie wirken nicht separiert. Unsere Zellen sterben jeden Tag. Neue kommen wieder, so wie der Baum. Es gibt immer wieder Prozesse, die Energie bleibt gleich. Spirit auch. „Soul is important. dance and soul.“ „Soul“. Seele. Seele tanzt.
Und ich möchte Licht in die Dunkelheit geben. Unsere Erinnerung. Vergessene Erinnerung tanzen zu lassen. Das ist wichtig. Unsere „memory“, unsere Erinnerung tanzen zu lassen. Wir haben viele Erinnerungen, nicht nur persönliche Erinnerungen, sondern auch an das Leben als Menschen, an „ancestors“, unsere Vorfahren, als Lebewesen: Tier, Fisch, Insekten, Amöben, aber auch als Elemente: Wasser, Luft, Feuer, Licht. Erinnerungen vom Kosmos haben wir im Gedächtnis, „cosmic memory“. Für mich ist Butoh, diese „cosmic memory“ tanzen zu lassen. Sie wird auch Formen annehmen. „Inochi“ (Leben) ist etwas Unsichtbares und „katachi“ (Form) etwas Sichtbares. Sie ergänzen sich. Wir können (im Butoh) in kürzester Zeit zu unnennbaren, unanalysierbaren Erinnerungen gehen, dem Körper Licht geben. Genauso wie Samen sprossen, wenn wir Licht und Wasser geben, so können wir Wasser geben, Licht geben, als Metapher natürlich. Dann können die Erinnerungen sprossen, knospen und dann blühen sie in kurzer Zeit zu Kreaturen. Wir können ihnen „katachi“, Form geben. Das ist sehr wichtig.
Welche Frage ist in deinem Leben wichtig oder treibt dich an?
Die Frage, was Leben ist, was ich selber bin, was die Menschen, was die Welt, was Universum ist. Eine unendliche Frage ohne Antwort. Deshalb ist es für mich wichtig, durch den Körper diese Frage immer wieder zu stellen, die Antwort zu suchen, obwohl ich weiß, es gibt keine – nicht nur eine Antwort, es gibt viele Antworten. Sogar wenn wir denken: „Ah, ich habe eine Antwort bekommen“, gibt es immer neue Fragen. Also geht es immer tiefer, tiefer, oder höher, höher, nicht nur vertikal weiter, weiter – so wie Schichten. Es gibt viele Schichten auch in uns, unserem Selbst, so wie bei einer „excavation“ (Ausgrabung) einer Ruine. Wenn wir graben, kommen immer neue Antworten. Es ist nie fertig, es gibt kein Ende.
Für mich ist wichtig, das, was ich weiß, zumal weil ich alles trage, alle Erinnerungen. Bedeutet nicht, dass ich mich nur mich selbst liebe – „self love“ ist sehr wichtig auch. Wenn wir uns nicht selber lieben, dann können wir nicht die anderen lieben – so ist es vertikal und horizontal. Ich ist sehr wichtig, nicht Ego, sondern Selbst, aber auch das Kollektiv. Deshalb ist es für mich wichtig einen Zirkel zu machen zuerst. Wir können auch unsere zentrale Linie zur Erde, zum Himmel und durch unser Tandem machen, aber auch diese Verbindung mit den anderen – Gesellschaft – kollektive Wesen – kollektives Ich auch – und auch universell, nicht nur als vertikales Kollektiv, noch weiter geht es, Universum, „cosmic“. Und diese Forschung durch den Tanz, nicht den Kopf – ich bin nicht so ein intellektueller Mensch, sondern eher körperlich, deshalb – durch den Körper zu forschen und für mich ist das so eine Freude, zu teilen, „sharing“, meine Erfahrung teilen, Unterricht geben oder Lehren ist auch Teilen. Es ist nicht nur, dass ich oben bin und gebe, sondern ich bekomme auch, so dass es so ständig Austausch mit anderen ist, ich bekomme auch Inspirationen. Und ich gebe und ich bekomme und diese Zirkulation bereichert mich. Dieses Sharing ist wichtig. Es ist nicht Frage oder Antwort, aber immer Sharing, Teilen, teilen.
Welche Antwort ist in deinem Leben wichtig?
Was Leben ist, was ich selber bin. Für mich ist Tanz, mich selber zu entwickeln, zu forschen, weiter zu bereichern, zu kultivieren, so dass ich besser mit den Leuten, auch mit den anderen, nich nur mit Menschen, sondern mit allen Sachen, einen guten Energiekreislauf schaffen kann. Das ist für mich Glücklichkeit. Freude des Lebens ist auch geben zu können, aber auch zu bekommen, zurückbekommen zu können. Diesen Kreislauf noch weiter zu kultivieren. Wege auf verschiedene Art und Weise zu forschen, sodass ich mit anderen tiefere Beziehungen, Austausch schaffen kann. Das ist für mich Liebe. Liebe ist das Allerwichtigste fürs Leben.
Gibt es eine Begebenheit, die dich zur Butoh-Tänzerin gemacht hat?
Eigentlich meine Eltern – sie haben in Japan, Tokio, eine Showbusiness-Agency gehabt. Als ich Kind war, bin ich sehr mit Musik aufgewachsen, nicht klassischer Musik, sondern Jazz oder lateinamerikanischer Musik. Zauberer oder Tänzer waren bei mir zuhause. Ich war immer umgeben von solchen Künstlern. Ich hätte nie gedacht, dass ich Tänzerin werden kann, aber plötzlich, als ich 20 Jahre alt war, eine Studentin, habe ich einen Zettel bekommen: „Tänzerin gesucht von Theater, Butoh-Company Ariadone.“ Plötzlich habe ich, ach, wie eine Intuition, wie einen Blitz bekommen. Ich habe mir nicht soviel Gedanken gemacht. Ich habe die Universität verlassen.
Mein Vater war schon tot, als ich 18 Jahre alt war. Ich habe zu meiner Mutter gesagt: „Ich verlasse diese Wohnung und gehe zur Company. Und ich wohne da.“ Sie war so schockiert, sie war total dagegen, sie war so sauer. „Was ist mit der Universität? Was machst du damit? Es hat so viel gekostet. Nicht nur das Geld. So kannst du dein Leben nicht schaffen, finanziell. Ich erlaube dir das nicht.“ Natürlich, sie hat Showbusiness gemacht, für ihre Kinder wollte sie aber ein ganz normales Leben. Dann habe ich gesagt: „Ich verlasse die Wohnung und lebe mit den anderen Tänzern zusammen.“ Ohne tiefe Gedanken habe ich das gesagt.
Und dann habe ich plötzlich angefangen als Tänzerin. Ich habe nie vorher getanzt, war nie Tänzerin gewesen vorher. Nur studiert, ich bin nie intellektuell gewesen, aber ich habe viel gelesen, lese immer noch gerne. Als ich Kind war, habe ich viel Märchen gelesen. Viel Fantasie habe ich schon gehabt. Aber ich habe nie getanzt. Also war mein Körper sehr steif, nicht gelenkig, überhaupt nicht. Ich habe es erst als Folter empfunden, habe gelitten, aber dann habe ich auch Freude bekommen an Streching, Warming-up und auch am Tanzen, aber auch eine tiefere Freude, mich zu befreien. Vorher war ich so ein bisschen verschlossen oder scheu, schüchtern, sehr schüchtern, introvertiert. Durch den Tanz habe ich mich auch ein bisschen befreit, bin immer ein bisschen lockerer geworden, konnte mich mehr öffnen, Türen öffnen. Ja Tanz, nicht nur Butoh, aber Tanz hat mein Leben, mich selbst auch geöffnet, mir tiefe Freude gegeben. Ich freue mich immer noch.
Wie hat dich Butoh bewegt bzw. verändert?
Wie ich vorher gesagt habe, hat Butoh mich sehr befreit. Ich war sehr schüchtern, bevor ich angefangen habe zu tanzen, aber mit der Zeit durch Tanz, Butoh, viele Menschen konnte ich mich erkennen, kultivieren und viele Türen, geschlossene Türen, langsam mit Freude öffnen. Butoh hat mein Leben sehr bereichert und, ja, ihm Licht gegeben, neues Licht gegeben, viele verschiedene Farben, viele verschiedene Geschmäcker.
Das so zu lernen, war manchmal mit Mühe, manchmal ohne Mühe. Ich lebe körperlich jetzt – vorher war ich sehr faul – aber jetzt mit dem Alter bin ich fleißiger geworden. Jeden Tag laufe ich zu Fuß, gehe spazieren und finde auch immer neue Schönheit … Schönheit im Park oder in der Natur und auch in kleinen Sachen, die ich vorher nicht bemerkt habe.
Wie hast du Butoh verändert?
Ich weiß nicht, was ich an Butoh geändert habe. Ich habe eine eigene Art und Weise zu tanzen und Unterricht zu geben – „body resonance based on organic movement in butoh“ – so wie ich es genannt habe und Unterricht gebe.
So wie ich schon gesagt habe, möchte ich gerne Licht geben in der Dunkelheit, nicht so etwas Totes oder etwas Schweres, Leiden oder Schmerzen. Natürlich gibt es einen therapeutischen Aspekt im Butoh. Viele Leute haben auch in meinem Workshop geweint, Tränen vergossen, aber nicht, weil ich solche Themen gegeben habe, sondern, wenn wir uns körperlich bewegen, werden auch unser Gedächtnis, unsere Erinnerungen locker und dann löst es etwas aus in den tieferen Schichten. Tränen kommen automatisch manchmal ohne trauriges Thema.
Mein Weg ist, Licht zu geben in der Dunkelheit, Freude zu finden, uns selbst zu lassen. Das war für mich nicht einzigartig, aber die Leute sagen: Bei Yumiko können wir viel lachen. Nicht Dunkelheit, sondern Leichtigkeit. Lust zu haben, Spaß zu haben ist auch gut. Nicht leiden, natürlich manchmal körperlich, Schmerzen in den Muskeln, Knien. Aber viele sagen mir: „Wow energetisch.“ Sie haben Lebensenergie bekommen, um weiterzugehen.
Das ist vielleicht meine Butoh-Charakteristik: Vitalenergie, Lebensenergie zu bekommen, auch spirituell. Alle haben Spirit, alle haben Geist, alle Objekte auch eine Frequenz, Resonanz. Es ist wichtig, diese Resonanz zu genießen, „body resonance“. Resonanz genießen mit allen Sachen, mit uns selbst.
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